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„Wir reden über KI, als wäre es eine Wunderwaffe“

Alle sollten „fließend Tech sprechen“, um zu verstehen, was Konzerne mit ihren Daten machen. Diese Medienkompetenz vermittelt Tactical Tech weltweit. Wie das geht, erklärt das Gründungsduo Stephanie Hankey und Marek Tuszynski. Das Interview führte Publix-Intendantin Maria Exner.

Tactical Tech entwickeln erfolgreiche Workshops und Ausstellungen zur Aufklärung über digitale Medien und Technologie und sind Publix Residents. Am 29. Juni kann man ihre Arbeit beim Open House erleben.

Kein Tag vergeht ohne Schlagzeilen über AI-Firmen, über Elon Musk, den Inhaber der Kurznachrichten-Plattform X, oder über Meta-Chef Mark Zuckerberg. Bedeutet das, die Öffentlichkeit ist über das, was sich im digitalen Raum abspielt, gut informiert?

Stephanie Hankey: Alle wissen ein bisschen. Alle haben ein Puzzlestück, ein Teil des Bildes. Manche Menschen kennen sich sehr gut mit den Apps aus, die sie täglich benutzen, aber sie wissen wenig über alles andere. Wir versuchen, Menschen dabei zu unterstützen, den Rest des Bildes selbst auszufüllen – indem wir ihnen Räume bieten, ihre Fragen zu stellen.

Tactical Tech macht diese Arbeit seit mehr als 20 Jahren, weltweit. Währenddessen ist die Zeit, die wir täglich an Geräten, mit Software und digitalen Medien verbringen, deutlich gestiegen. Reichen die Bildungsangebote, die es gibt, denn vor diesem Hintergrund aus?

Hankey: Vielleicht noch mal einen Schritt zurück: Warum braucht es überhaupt Angebote für digitale Kompetenz? Man könnte sagen: Wir brauchen andere Dinge, um das Technologie-Verständnis in der Politik zu erhöhen: Wir müssen an der Regulierung arbeiten oder in Innovationen investieren, die weniger Risiken für ihre Nutzer:innen bergen. Aber: Die Technologie ändert sich viel schneller, als die Politik reagiert. Wir können also nicht darauf warten, dass Leute in Entscheidungspositionen das System ändern. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen nicht nur mit den Problemen konfrontiert sind, sondern wirklich mitreden können. Menschen können sich unmöglich zu etwas äußern, das sie nicht verstehen.

Wenn das das Ziel ist: Wie nah sind wir dran, wie gut ist die Medienkompetenz?

Marek Tuszynski: Das Konzept der Medienkompetenz geht von der Annahme aus, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen „alphabetisiert“ werden müssen, als ob sie Analphabeten wären. Wir sind der Meinung, dass jede und jeder, der oder die Technologie nutzt, egal ob professionell oder privat, mit bestimmten Aspekten vertraut ist und mit anderen weniger. Wie „einheimisch“ fühlt sich jemand in digitalen Räumen und im Umgang mit digitalen Medien? Wie bewandert ist er, in den technologischen, politischen und wirtschaftlichen Aspekten der Technologie, die er nutzt? Darum geht es uns.

Wovor schützt ein höherer Grad an Verständnis und Wissen, welche potenziellen Gefahren drohen jenen, die nur gebrochen „Tech sprechen“?

Tuszynski: Ein mögliches Risiko ist der mangelnde Schutz der Privatsphäre und damit der eigenen Sicherheit. Für andere Menschen kann es um die Frage gehen, wie viel sie preisgeben wollen, wem sie vertrauen. Was geschieht mit meinen Daten? Wer verdient damit Geld? Und wie ist das Gleichgewicht zwischen den Risiken, die ich eingehe, und dem Nutzen, den ich daraus ziehe – im Vergleich zu den Vorteilen, die andere daraus ziehen? Ganz praktisch gesagt: Es ist wichtig zu wissen, was genau man benutzt und warum.

Wie kann das gelingen?

Hankey: Das Problem ist die schiere Menge an Menschen, die Medienkompentenz-Trainings brauchen. Ein paar tausend Menschen aufzuklären, genügt nicht. Wir müssen Millionen erreichen. Wirklich voran kommen werden wir erst, wenn wir diese Themen in die Lehrpläne an den Schulen integrieren und strukturiert ältere Menschen erreichen. Dafür ist die bestehende soziale Infrastruktur in Europa und in Deutschland enorm wichtig: Bibliotheken, Museen, Schulen. Eine Möglichkeit, massenhaft Menschen zu erreichen, wäre es, Social Media zu nutzen, um die Leute über Social Media aufzuklären. Aber das muss man entweder erzwingen oder es braucht hohe Investitionen, damit diese Aufklärung unabhängig ist.

Einzelne Ausstellungen von Tactical Tech haben in der Vergangenheit Tausende Menschen erreicht. Ihr arbeitet inzwischen viel mit Partnern wie Bibliotheken. Wie läuft das ab?

Tuszynski: Unser Team bei Tactical Tech besteht aus 20 Leuten hier in Berlin. Das ist nicht viel. Also arbeiten wir mit bestehenden Institutionen, die sich sowieso gerade neu erfinden müssen. Sie wissen nicht, wie das Digitale funktioniert – aber ihr Publikum erwartet, dass sie es wissen. Das sind zum Beispiel Bibliotheken, Schulen, Vereine, Museen, Gemeindezentren. Sie haben wenig Ressourcen, aber es gibt sie und es wird sie weiterhin geben. Wir helfen ihnen dabei, Akteure des Wandels zu werden, adaptieren unsere bestehenden Materialien an ihre Bedarfe, entwickeln gemeinsam mit ihnen Neues. Alles folgt dem Prinzip Open Source.

Hankey: Wir haben zum Beispiel eine Bibliothek in Schweden ausgestattet und die Mitarbeiter:innen geschult. Diese eine Bibliothek hat ihr Wissen dann an 60 andere Bibliotheken weitergeben. Ein Partner in den Niederlanden hat unsere Arbeit praktisch in ganz Holland bekannt gemacht. So wirken wir weit jenseits unserer eigenen Reichweite.

Ihr seid also selbst selten dabei, wenn Menschen sich mit den Arbeiten von Tactical Tech auseinandersetzen. Woher wisst Ihr dann, ob die Workshops oder Ausstellungen etwas bewirken?

Hankey: Jede neue Idee testen wir selbst ausführlich mit der Zielgruppe, für die sie gemacht ist, etwa mit Schulklassen, deren Feedback dann in die weitere Entwicklung einfließt. Bei der Ausstellung „Glassroom“, die wir von 2016 bis 2019 in Europa und den USA gezeigt haben, wurden Besucher:innen direkt nach dem Besuch und dann nochmal sechs Monate später befragt – sie hatten nicht nur andere Apps installiert, sondern ihre Einstellung zu Technologie messbar verändert. Aktuell bei der Entwicklung unseres neuen Programms „AI and You“ sehen wir noch einen anderen Effekt: Die Menschen sind einfach dankbar und erleichtert, dass sie mit jemandem über das Thema sprechen, ihre Fragen loswerden können.

Das heißt, die Menschen nutzen KI-Tools, haben aber einen Haufen Fragen im Kopf, die sie niemandem stellen können?

Tuszynski: Der Diskurs über Technologie wird auf allen Ebenen von den Konzernen bestimmt. Wir sprechen zum Beispiel über Social Media, als ob das ein neutraler Begriff wäre, ein Konzept, das schon immer in der Gesellschaft verankert war. Das ist aber nicht der Fall. Dasselbe gilt für KI. Wir reden über KI, als wäre es eine Art Wunderwaffe, die irgendwo in einer Höhle entdeckt und dann der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, und jetzt müssen wir sie verstehen, weil sie eine Art göttliches Gerät ist. Wenn man Begriffe wie „soziale Medien“ oder „KI“, durch die Bezeichnung dessen ersetzt, was sie sind – Produkte internationaler Konzerne, die hinterlegt sind mit großen Sprachmodellen und immenser Rechenkapazität –, klingt das ganz anders.

Ist so gesehen auch die Vermittlung von Medienkompetenz nicht neutral, sondern heißt konkret: den Menschen beibringen, wie sie Produkte bestimmter Konzerne sicherer nutzen?

Tuszynski: Wenn man so will, ist es der Versuch, kaputtes Werkzeug zu reparieren. Die Konzerne beteiligen sich an solchen Maßnahmen, solange es gut für sie ist – und wenn sich politisch der Wind dreht, entziehen sie sich jeglicher Rechenschaftspflicht, wie es Facebook jüngst getan hat. Wir als NGOs und viele Bildungsinstitutionen fangen den Schaden auf, den diese Unternehmen mit ihren Produkten verursachen. Wir sind die Post-Market-Research-Abteilungen, die auf Risiken aufmerksam macht, wenn sie schon längst eingetreten sind. In dieser Hinsicht orientiert sich das ganze Gebaren der Tech-Konzerne an dem der Öl- oder Plastikindustrie – einschließlich der Lobby-Arbeit, der gleichen Versuche, wissenschaftliche Studien zu beeinflussen, der gleichen Narrative. Ich fürchte, es wird auch hier 40 Jahre dauern, bis wir dahinterkommen.

Beim Publix Open House am 29. Juni bietet Ihr einen Workshop an, der sich spielerisch mit den polarisierenden Effekten von Social Media auseinandersetzt, und eine „Data Detox Minibar“. Was genau erwartet die Besucher:innen?

Hankey: An der Minibar gibt es praktische Tipps im Stil von Rezepten. Denn ja, Theorie und Konzepte sind wichtig, aber die Leute wollen auch wissen, was konkret sie tun sollen. Dafür sind unsere Schritt-für-Schritt-Anleitungen zur digitalen Entgiftung gedacht. Unsere Workshops sind immer eine Einladung an die Teilnehmer:innen, zu experimentieren und Dinge auszuprobieren. Wir wollen Aha!-Momente schaffen.

Was ist die wichtigste Erkenntnis, die ihr bei der Arbeit an diesem Thema gewonnen habt?

Tuszynski: Dass wir zu viel Zeit damit verbringen, auf das zu reagieren, was Big Tech uns diktiert. Können Tools von Unternehmen, die niemandem Zugang zu den Algorithmen und Daten gewähren, jemals demokratische Tools sein? Meine Antwort ist nein. Wir vergeuden Zeit – und Zeitverschwendung ist sehr gut für deren Geschäft. Viele demokratische Einrichtungen, die die Macht und die Ressourcen hätten, Technologien zu definieren, schlagen sich mit Blackboxen herum, die sich niemals öffnen werden. Sie werden nie gut sein. Statt zu diskutieren „Wie gut oder schlecht ist KI? Wie gut oder schlecht ist Social Media?“ sollten wir uns fragen, was wir in Deutschland und in Europa wirklich für Technologien brauchen.

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